Wir sollten Alstom helfen, sich von Görlitz zu trennen.

Salamitaktik der großen Konzerne

Herr Scholze, Sie haben vor vier Jahren erlebt, wie Siemens das Turbinenwerk in Görlitz schließen wollte. Jetzt will
Alstom die Hälfte der Belegschaft des Waggonbaus auf die Straße setzen. Kommt Ihnen das bekannt vor?

Ja, das kommt mir sehr bekannt vor. Es ist die gleiche Salamitaktik: Scheibchenweise wird die Belegschaft abgebaut, bis die Werke
unter eine kritische Größe fallen. Die liegt etwa bei 500 Mitarbeitern. Anschließend werden sie geschlossen, weil sie zu klein
geworden sind.

Können Sie sich vorstellen, dass erneut halb Görlitz auf die Barrikaden geht wie Anfang 2018 bei Siemens?
Das glaube ich nicht. Komplettschließungen sind nochmal ein anderes Szenario. Bei der Halbierung der Mannschaft trösten sich
viele mit dem Gedanken, es ist zwar schlimm, aber es bleibt ja der Standort erhalten. Und man braucht auch die Leute, um solche
Proteste strategisch zu planen und schließlich mit der Konzernführung ins Gespräch zu kommen. Die Belegschaft des Waggonbaus
ist durch den jahrelangen Niedergang so zermürbt. Sie hat erleben müssen, dass alles nichts gebracht hat. Außerdem: Wir haben es
bei Alstom mit einem Konzern zu tun, dessen Sitz in Frankreich ist. Die sind dort sowieso ganz andere Arbeitskämpfe gewohnt. Und
es verringert die politischen Einflussmöglichkeiten.

Auch bei Siemens scheint der Arbeitskampf damals nur bedingt genutzt zu haben, Siemens Energy will weitere
Arbeitsplätze in Görlitz abbauen, Neues entsteht viel zu langsam. Sind die großen Konzerne im Strukturwandel zu
schwerfällig?

Die großen Konzerne sehen sich alle einem erzwungenen Transformationsprozess gegenüber. Sie haben sich zu lange auf der
Erfolgswelle ausgeruht. Bestes Beispiel ist die Automobilbranche, wo Tesla erst belächelt wurde und heute Lichtjahre den
deutschen Automobilunternehmen voraus ist. Meiner Meinung nach wird es Konzerne in der heutigen Form in zehn Jahren nicht mehr geben.

Waggonbau Görlitz leidet unter Versäumnissen seit Jahren

Nun kommt die Entwicklung bei Alstom nicht überraschend. Die Bahnindustrie kämpft mit Überkapazitäten, das
Görlitzer Werk ist in den letzten zehn Jahren stiefmütterlich behandelt worden. Andererseits wird der Bahn bei der
Klimawende eine Renaissance prognostiziert. Was läuft da schief?

Die Versäumnisse sind zunächst nicht bei Alstom zu suchen, sie haben die Probleme von Bombardier durch den Kauf nur geerbt.
Bombardier hat die Entwicklung verschlafen und einfach viel zu wenig in neue Produkte und in den Standort Görlitz investiert.
Anders als in Bautzen. So gibt es jetzt auch eine spezielle ostsächsische Konkurrenzsituation: In Bautzen eines der modernsten
Werke in Europa, in Görlitz das ganze Gegenteil. Niemand konnte ernsthaft davon ausgehen, dass durch die Übernahme von
Bombardier durch Alstom auch nur ein einziges Problem gelöst wird. Und wir haben eben kaum ein Druckmittel in der Hand,
anders als bei Siemens, wo Joe Kaeser zusammen mit der deutschen Regierung Wirtschaftspolitik machen wollte.

Wenn die Lage aus Ihrer Sicht so verfahren ist, was ist dann der Ausweg: Widerstand bis zum letzten?
Nein. Alle müssen verstanden haben, dass es mit Alstom für den Görlitzer Waggonbau nicht weitergeht. Deswegen sollte das Werk
aus der Konzernstruktur herausgelöst und neue Geschäftsmodelle für Themen wie Bahn und Mobilität entwickelt werden.
Anschließend müssen Investoren gesucht und Geld in die Region geholt werden.

Warum geht das nicht in den Strukturen des Konzerns?
Die Struktur der Werke ist zu kleinteilig. Alstom produziert ja an keinem Standort einen ganzen Zug, sondern die Teile werden durch
die Republik gefahren, damit am Ende ein Zug entsteht. Konzerne sind deswegen immer an wenigen, großen Standorten
interessiert, wo sie die Produktion konzentrieren können. Das macht sie preisgünstiger. Ab einer gewissen Größe kosten kleine
Standorte zu viel, dann werden sie geschlossen. Und dann kommt noch eine Tatsache hinzu: Konzerne werden dort Standorte
schließen, wo der vermeintliche Widerstand am geringsten ist. Und da orientieren sie sich sehr am Organisationsgrad der
Belegschaft in den Gewerkschaften. Wo viele Gewerkschaftsmitglieder sind, wird auch die Reaktion der IG Metall größer sein.

Chancen der Neugründung sind viel höher

Warum ist Ihrer Meinung nach jetzt ein guter Zeitpunkt, um den Görlitzer Waggonbau praktisch neu zu gründen?
Noch haben wir industrielle Kerne mit Siemens, Alstom und der Leag. Aber die Konzerne haben kein Geschäftsmodell, das sie in die
Zukunft tragen wird. Wir müssen diese Kerne erhalten und nicht „gesundschrumpfen“. Das hilft auf Dauer nicht. Deswegen ist jetzt
ein Re-Start der Wirtschaft nötig. Dafür brauchen wir die Fähigkeiten der Mitarbeiter in den Konzernen. Dort arbeiten Fachleute mit
hoher Expertise. Sie brauchen wir, wenn wir künftig auf den Zukunftsmärkten mitspielen wollen.

Aber sind die Unsicherheiten bei einer Neugründung nicht größer, als wenn man jetzt sagt, okay, nochmal 200
Arbeitsplätze weniger, aber Alstom bleibt am Standort Görlitz?

Ja, ein Risiko ist da, dass es nicht funktioniert. Aber zugleich gibt es eben die Chance, ein zukunftsfähiges Unternehmen zu
entwickeln. Und diese Chance ist um ein Vielfaches höher. Die Sicherheit, dass Alstom irgendwann das Görlitzer Werk schließt, ist
enorm groß. Deshalb lohnt sich der Versuch.

Alstom soll Umstrukturierungen in Görlitz finanziell begleiten

Wie würde er aus Ihrer Sicht aussehen?
Wir bieten Alstom an, den Standort Görlitz zu übernehmen. Im Gegenzug stellt der Konzern das Geld für den
Umstrukturierungsprozess zur Verfügung, das Alstom für den Abbau der 400 Arbeitsplätze ohnehin ausgegeben hätte. Mithilfe des
„Kaufhauses der Innovation“ in Görlitz finden wir die kreativsten Köpfe innerhalb der Belegschaft und starten mit diesen sofort die
Erarbeitung einer Lösung für alle 900 Mitarbeiter. In zehn bis 15 Wochen liegen zwei, drei neue Geschäftsmodelle vor, über die wir
mit Experten sprechen: Wir denken nicht nur über Waggons nach, sondern über neue Produkte und Dienstleistungen wie zum
Beispiel die Umrüstung kommunaler Fahrzeuge auf Elektroantrieb. Da wäre der Görlitzer Waggonbau über viele Jahre ausgelastet.
Schließlich holen wir mehr Ingenieure an den Standort, um uns zu helfen, noch besser zu werden. Am Ende interessieren wir
Investoren für das Görlitzer Unternehmen und ermöglichen es Alstom den kompletten Standort mit allen Mitarbeitern abzugeben.

Gibt es denn schon Beispiele für solch eine gelungene Transformation?
Einzelne wie zum Beispiel Becker Radio. Als niemand mehr Radios von ihnen wollte, ist genau dieser Prozess abgelaufen, ein neues
Geschäftsmodell wurde entwickelt, die Firma an Webasto verkauft. Heute produzieren sie Ladestationen für die E-Mobilität und
dürften die nächsten Jahrzehnte gut ausgelastet sein.
Warum sollte sich Alstom darauf einlassen?
Alstom will keinen Dauerkonflikt, keine monatelangen Auseinandersetzungen. Wir machen dem Konzern das Angebot: Wir helfen
Euch dabei. Sie können sich vorstellen, wie schwer mir als früherem Betriebsrat eine solche Aussage fällt. Aber nicht nur Alstom
wäre ein Gewinner. In der Lausitz würden sichere Arbeitsplätze entstehen, es würde investiert. Dafür fordern wir von Alstom die
Zustimmung für diesen Weg ein und damit auch eine Anschubfinanzierung.

Ein solcher Weg ist nur denkbar, wenn ihn auch Politik und Gewerkschaft unterstützen: Ideell und finanziell.
Absolut. Dieses Bekenntnis, dass der Alstom-Weg nicht nachhaltig ist, muss öffentlich gemacht werden. Um anschließend den
neuen Weg gemeinsam zu gehen, der mehr Chancen auf langfristige Sicherung des industriellen Kerns besitzt. Es ist sehr gut
möglich, dass alle Arbeitsplätze am alten Bombardier-Standort erhalten bleiben können und neue hinzukommen, wenn wir uns
wieder darauf konzentrieren, die besten Dinge des Lebens dort zu produzieren. Der Übergang, bis es so weit ist, wird Jahre dauern.
In dieser Zeit müssen wir immer wieder mit Alstom reden, was wir wollen und brauchen und wo der Konzern unterstützen kann.

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